Zerstörung durch Umdeutung

 

Die Geschichte der »Neuen Wache« unter den Linden, die deutsche Tradition und warum die DDR anders war

Jene schreckliche deutsche Kontinuität, das ist das Deutschland, das mit zwei Kriegen der Welt neu definierte, was der Mensch dem Menschen anzutun in der Lage ist und das ungeachtet dieser Geschichte wieder rüstet und Krieg führt. Die »Neue Wache« unter den Linden zu Berlin steht für die deutsche Kontinuität und ihren Bruch zugleich. 

 

Flankiert von Statuen, die Generäle der preußischen Angriffsarmee darstellten, sollte die Wache als »Siegesmal für den Krieg gegen Napoleon« fungieren. Dazu passt nur zu gut, dass sie ab 1848 auch als Arrestzelle für Revolutionäre diente. Nach »Preußens Glanz und Gloria«, einen Weltkrieg später, geführt für Siemens, Daimler, Deutsche Bank, wird die Wache »Gefallenendenkmal« für die »Helden« des kaiserlichen Heeres. Es bleibt in der Familie. 

Ab 1921 heißt das Heer Reichswehr. Das Blut Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs an ihren Händen ist noch nicht trocken, da übergibt man 12 Jahre später die Macht an die Nazis. Die Uniformen wechseln, die Auftraggeber bleiben dieselben. Auch von Nazideutschland zur BRD bleibt alles in deutscher Tradition. Auch wenn man sich demokratisch gibt, gleich blieben doch die Siemens, Daimler, Deutsche Bank, die bald wieder nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Ostdeutschland tanzt nicht mehr mit, und auch Osteuropa ist erst mal unerreichbar für deutsches Kapital. Da braucht es die alten »Experten« des letzten Ostlandfeldzuges. So werden die letzten Generäle der faschistischen Wehrmacht die Ersten der Bundeswehr. Wieder nur neue Uniformen …  

Faschisten, Kriegsverbrecher, Generäle wie Speidel, Heusinger und Kielmansegg ziehen in den Kasernen das Personal groß, das heute die Bundeswehr für Kapital und »Vaterland« in Gang setzt, für Märkte und Rohstoffe in aller Welt. Die deutschen Täter werden unsichtbar in einer universellen Opfergruppe.

 

Verschweigen und Relativieren der eigenen Verbrechen – das braucht es für ein Geschichtsbild, das erlaubt, ungehindert weitermachen zu können trotz zweier Weltkrieg und einem Holocaust. Es geht nur mit Vernebelung der Geschichte, Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus und der immer damit einhergehenden Relativierung der Shoah.


40 Jahre erzwingt die Staatsgrenze der DDR eine Pause dieser Widerwärtigkeit, wenigstens im Osten. Mit der Annexion der DDR endet diese Pause. Das Hinklotzen der »zentralen Gedenkstätte der BRD für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« in der »Neuen Wache«, auf den Trümmern der antifaschistischen antimilitaristischen Gedenkstätte der DDR, stellt nur den Endpunkt einer Reihe von Versuchen dar, endlich einen zentralen Schlussstrich unter die deutschen Geschichte zu setzen und die BRD wieder auf Augenhöhe mit den Mächten der Anti-Hitler-Koalition zu heben. 1955, schon knapp 10 nach Kriegsende, fordert die FDP ein »Bundesehrenmal«. Konkretisiert wird diese Sehnsucht nach einer Trauerstätte für »unsere Kriegshelden« 1961 durch Bundespräsident Heinrich Lübke. Bundespräsident ist nur die Krönung der Laufbahn dieses Mannes, der sich auskennt mit Tätern und Opfern. Dass er Hauptmann der  Wehrmachtsreserve und Verantwortlicher für den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen in der »Heeresversuchanstalt Peenemünde« war, macht ihn zum »Experten«. So kommt es zur ersten »zentralen Gedenkstätte«, noch bescheiden als schnöde Bronzetafel im Bonner Hofgarten, auf der eine der zukünftigen Grundformeln bundesdeutscher Geschichtsklitterung ihren Platz findet: »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Man läßt nicht unerwähnt, welche Täter und welche Opfer man schon mit der Wahl des Einweihungstermins meint: Der Tag des »Volksaufstands« am 17. Juni in der DDR muss es schon sein. 

Die junge BRD wird älter, und man traut sich schon wieder einiges zu und reißt die großdeutsche Fresse auf: Bundestagspräsident Stücklen fordert entsprechend 1982 am Volkstrauertrag, ein Mahnmal »für die Millionen deutscher Soldaten zu errichten, die im Osten oder irgendeiner anderen Himmelsrichtung an unbekannten Orten begraben liegen.« Weiter geht es mit der Initiative deutscher »Kriegsopferverbände«, die nach einer »nationalen Gedenkstätte für die Kriegstoten des deutschen Volks« brüllen. Diese Verhöhnung der Opfer des deutschen Faschismus und Militarismus soll sich auf 40.000 qm erstrecken. Die Suche nach einer Geschichtsendlagergedenkstätte nimmt wieder Fahrt auf, als sich Kohl und Reagan im Mai 1985 auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg die Hand geben – entgegen internationalem Protest über den Gräbern von Wehrmachtssoldaten und SS-Mördern. »Kohl wollte die Rückkehr zu deutschen Kontinuitäten.« 

 

Mit dem Einreißen der Nachkriegsordnung, dem absoluten Bruch des Potsdamer Abkommens, mit der dritten deutschen Bombardierung Jugoslawiens 1999 und dem Umbau der Bundeswehr zur High-Tech-Angriffsarmee wird diese Rückkehr offensichtlich. Hass gegen Russland aus allen medialen Kanonenrohren der BRD, ökonomische und politische Durchdringung von Staaten wie Griechenland und Ukraine, die sich noch gut an die letzte Durchdringung durch Deutschland erinnern, sind logische Folge und schon kein Skandal mehr. Wer will da noch vom Holocaust oder dem deutschen Faschismus hören? Wer will da noch wissen von den Ursachen, von den deutschen Tätern? Krieg ist Krieg, da muss man mit, die anderen sind auch nicht besser, oft genug sogar schlimmer. Ob vergaster Jude oder KZ-Aufseher, alles nur Opfer, niemand hat etwas getan, alle haben nur gelitten unter einer unvermeidlichen »Naturgewalt Krieg« – Amen. 

 

Diese neue Normalität steht nun gegossen in die »Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«.

 

Wessen Krieg, für wen, gegen wen, Gedenken für welche Opfer, wer sind die Täter? Dass draußen an den Tafeln, an den Rand geschoben, die Vernichtung der Juden durch den deutschen Faschismus überhaupt eine Andeutung fand, kam nur durch Protest zustande, unter anderem von Seiten des Zentralrats der Juden. Die Verbände der Opfer des deutschen Faschismus wurden entsprechend einem Geschichtsbild, das sie nicht ausstehen kann, erst gar nicht befragt nach ihrer Sicht auf die Ausgestaltung der Gedenkstätte. Und was für Jerzy Kanal, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, »absolut inakzeptabel« ist, darauf scheißt dieser Staat, in deutscher Tradition.

Der Bruch – da gab es noch ein anderes Deutschland

 

Jedoch steht die »Neue Wache« nicht nur für diese Kontinuitäten. Über Jahrzehnte war sie Sinnbild einer 180 Grad entgegenstehenden Andersartigkeit eines zweiten Deutschlands, das es nicht mehr gibt: die Deutsche Demokratische Republik. Ein neuer deutscher Staat, der mit seinem Denken und Handeln die schreckliche deutsche Kontinuität radikal beendet, der mit der deutschen Tradition bricht. Ein tiefer roter Riss durchs großdeutsche Familiengemälde. Welch dreiste Zweckentfremdung der »Neuen Wache«: unglaubliche 21 Jahre hat sie gefälligst das »Mahnmal für die Opfer von Faschismus und Militarismus« zu beherbergen. Es wird der vorerst einzige kurze Lichtblick ihrer langen Geschichte.

 

Lang stritt man in der DDR darum, was aus der ehemaligen »Weltkriegsheldengedenkstätte« werden sollte. Die FDJ Berlin, die aufs Schärfste alle militaristischen und nazistischen Tendenzen bekämpfte, fordert in einer öffentlichen Erklärung, die »Ruine schnellstens (zu) beseitigen.« Welch befreiendes Feuerwerk unter den Linden wäre dies! Fort mit den Trümmern des deutschen Militarismus – das war das Schicksal der Überreste der Potsdamer Garnisonkirche, des Militärtempels der Hohenzollern, und des Berliner Hohenzollernschlosses. Bei der »Neuen Wache« entscheidet man sich für den Erhalt des Schinkel-Baus. Die Kulturkommision des FDGB widerspricht entschieden dem Vorschlag der FDJ. Nach langer Diskussion teilen im Juli 1956 die Magistratsdienststellen der Öffentlichkeit mit: »In Verfolgung der 10. Volkskammertagung beabsichtigt die Denkmalpflege, die ehemalige ›Neue Wache‹ als Gedächtnisstätte für die Opfer des Faschismus auszugestalten.«

 

Die Arbeiten beginnen. 1962 ist die Wache von außen vollständig restauriert. 1968 beginnen unter der Leitung des Architekten und Kommunisten Lothar Kwasnitza die Arbeiten am Inneren der Wache. Kwasnitza weiß noch, wie es war im Faschismus, seine Familie ständig bedroht vom Zugriff durch die SS, der Vater verschleppt in Hitlers Zuchthaus. Im Innern der Wache bleibt kein Stein auf dem anderen, es erhält eine vollkommen neue Gestalt. Der stählender Dornenkranz aus Kaisers Zeiten, das große christliche Kreuz, das die Faschisten an der Rückwand der Wache anbrachten, der »Opfermonolith«, der einst das Zentrum der Wache ausmachte – fliegt auf den Müllhaufen. 

 Die Hochschätzung für die antifaschistische Umwälzung, für die Bestrafung der Kriegsverbrecher, für die Umsetzung des Potsdamer Abkommens, die bedingungslose Einsicht in die Notwendigkeit, sich dem Revanchismus der BRD entgegenzustellen, zeigte der ostdeutsche Staat vor allem durch seine Tat, da er all dies umsetzte, solang er existierte. Er zeigte es an der »Neuen Wache« durch die Bewachung des Gedenkens, des Bruchs der »alten deutschen Tradition«. Er bewachte es mit Soldaten der ersten deutschen Armee, für die man sich nicht in Grund und Boden schämen muss. Eine Armee, die von Antifaschisten und nicht von Faschisten aufgebaut wurde. Eine Armee, die eine Einheit bildete mit der Roten Armee, ihr engster Verbündeter wurde. Eine Armee im Bund mit den Armeen der vom Faschismus überfallenen Staaten Osteuropas. Etwas Neues in deutscher Gegend, eine Volksarmee,  die sich den deutschen Kriegstreibern entgegenstellt, statt ihnen den Weg freizuschießen.

 

Der gern angeprangerte Umstand, dass die NVA manch militärisches Zeremoniell vor der Wache abhielt, auch manches Preußische wie den »Stechschritt«, ändert nichts an diesen Zusammenhängen, ist sekundär.

 

Dass die Überreste eines unbekannten deutschen Soldaten, eines Täters, im Gedenkraum beigesetzt werden, ist in der DDR nicht unumstritten, wird durch Diskussionen begleitet. Die DDR begründet ihre Entscheidung damit, dass die Millionen deutschen Soldaten, die ihr meist junges Leben für die Weltherrschaftspläne des deutschen Kapitals gaben und ihren wirklichen Feind nicht erkannten bis zum Schluss, neben ihrer Täterschaft auch missbraucht wurden durch den deutschen Militarismus und Faschismus. Wir finden, da ist viel dran, ob es die getätigte Umsetzung rechtfertigt, darüber sind wir uns nicht einig. Doch neben dem Wesentlichen wird dieser Widerspruch sekundär. 

 

Wesentlich ist: »Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«. Die DDR hat mit dem Bruch der deutschen Tradition und der Erhebung des Antifaschismus zur Staatsdoktrin, mit der Umsetzung des Potsdamer Abkommens und dem Schutz dieser Umsetzung auch mit Waffengewalt, mit der Zerstörung der wirtschaftlichen Basis des Faschismus ihr Denken und Handeln entsprechend eingerichtet. Das »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus« entsprach diesem Denken und Handeln.  

Das erste Mal ist was neu an der »Neuen Wache«. Ihr wird der Stempel eines Staates aufgedrückt, in dem Antifaschismus Staatsdoktrin ist: unter einer Bronzeplatte im Gedenkraum werden die sterblichen Überreste eines unbekannten antifaschistischen Widerstandskämpfers zur Ruhe gebettet, gemeinsam mit Behältnissen, die blutgetränkte Erde der deutschen Mordstätten und Konzentrationslager enthalten:

 

Auschwitz, Mauthausen, Natzweiler, Struthof, Theresienstadt, Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück und Dora-Mittelbau.

 

Der Urne eines unbekannten deutschen Soldaten wird die blutige Erde der größten Schlachtfelder des 2. Weltkrieges beigegeben: Erde aus Moskau, Leningrad, Stalingrad, der Normandie, von Monte Cassino, aus Narvik, aus Warschau, Prag und Berlin.

 

Hinter den Gräbern wird eine ewige Flamme entzündet, die 21 Jahre ununterbrochen brennt. Sie wird erst mit dem Staat erlöschen, der sie zündete. Der Schein der ewigen Flamme wirft Licht auf die Inschrift im Mahnmal: »Den Opfern von Faschismus und Militarismus«. Die Taten und die Täter haben Name und Adresse, die Opfer auch, beides steht klar zu unterscheiden in dieser antifaschistischen Gedenkstätte, und nicht wie heute: restlos unkenntlich gemacht und vermischt in einer allgemeinen Opferpampe außerhalb auf Tafeln gekritzelt.

 

Noch etwas steht im »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus« an die Wand geschrieben, das wohl unmissverständlichste Symbol für den radikalsten Bruch mit jeder schrecklichen deutschen Tradition: das Staatswappen der DDR. Denn es zeigt auf, dass die ewigen Auftraggeber für Weltkrieg, Elend und Massenmord, die Siemens, Daimler, Deutsche Bank, verjagt und machtlos waren in diesem Staat. Seit dem 1. Mai 1962 wird das Mahnmal tagsüber von zwei Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR mit höchsten militärischen Ehren bewacht. Man kann sicher darüber streiten, wie ein Staat den höchsten Grad seiner Wertschätzung zeigt, was er als wesentlich und wichtig erachtet. Die DDR tat es auf unterschiedliche Weise.

Mit der Einverleibung der DDR ist wieder in Frage gestellt, was dort ein für alle Mal geklärt war. Die ökonomische Basis, die Auschwitz ermöglicht hat, besteht in der BRD weiterhin unangetastet. Das Personal, das den letzten Weltkrieg um die Welt hetzte und mit ihm den deutschen eliminatorischen Antisemitismus und das System der industriellen Vernichtung menschlichen Lebens, blieb in Amt und Würden, hat den heutigen politischen und militärischen Apparat erzogen. Wieder geht es nach deutscher Tradition um Überfall und Angriffskrieg. Die deutsche Geschichte, die sich tief ins Angesicht der Welt brannte, stört dabei.

 

Deswegen muss sich dieses Deutschland eine neue Geschichte schreiben. Daran gearbeitet wird seit 70 Jahren. Auschwitz soll nicht länger ewiges Mahnmal für die Taten des faschistischen Deutschland sein, sondern Rechtfertigung für neue Waffengänge der Bundeswehr für deutsche Interessen weltweit. Die DDR darf niemals ein Korrektiv, niemals antifaschistische Alternative gewesen und muss deshalb das Monster »Unrechtsstaat« sein. Dazwischen soll die BRD in blütenweißer Westen stehen, legitimiert, wieder an allen Kriegsfronten der Welt dabei zu sein und mit neuen Kriegen einen erneuten Alleingang zu wagen – in deutscher Tradition.